Header Biografie und Dorfgeschichte: Wie die jüdische Familie Jacobs die Kindheit und Jugend in unserem Dorf zu Zeiten des Nationalsozialismus erlebte

„Wunder geschehen doch noch!“
Geschichte und Schicksal der jüdischen Familie Jacobs aus Nuttlar

Buchtitel Jacobs Wunder geschehen doch noch

Beim der Recherche für die KAB-Ortszeitschrift "Wir Nuttlarer" über jüdisches Leben zu Zeiten des Nationalsozialismus , begegnete Franz-Josef Wiemer der Name der in Nuttlar lebenden jüdischen Familien Familie Jacob und Herzberg.

Welche Erinnerungen haben sie an Nuttlar? Wie erlebten oder erlitten Sie das Leben im Dorf während des Nationalsozialismus ?

Aus anfänglichen Kontakten nach Israel entwickelte sich ein reger Schriftverkehr und ein persönliches Kennenlernen zwischen Jethro Jacobs, der in einem religiösen Kibbuz lebt.

Dabei erfuhr Franz-Josef Wiemer, von der Existenz eines einmaligen Zeitdokuments:

Erich Jacobs, geb. am 19. 12. 1906 in Nuttlar, hatte seine Biographie von der Kindheit über Schule, Studium und Beruf sowie über die Schrecken der Judenverfolgung bis hin zu seiner Auswanderung 1941 in englischer Sprache niedergeschrieben. Je 1 Exemplar davon hinterließ er seiner Frau Hetti und den beiden Kindern Jethro und Fredel, verschlossen in einer Holzschachtel, mit der Bitte, die Originale erst nach seinem Tode zu öffnen.


Dieser erklärte sich, vor dem Hintergrund der Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, einverstanden, diese Dokumente seines Vaters zugänglich zu machen. Er betont, dies geschehe vor allem auch auf Wunsch seines Vaters, der am 6. 3. 1973 in Trenton (USA) verstarb. Andreas Wiemer übernahm die Übersetzung des Schriftwechsels - und so entstand Briefwechsel um Briefwechsel ein spannende Geschichte jüdischen Lebens in Nuttlar vor unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Judenverfolgung.

Kurzweilig, teils humorvoll und detailliert berichtet Erich Jacobs von seiner Kindheit, dem jüdischen Leben auf dem Lande und dem Zusammenleben mit der nicht-jüdischen Bevölkerung.
Nach dem Besuch von Volksschule und Gymnasium wechselte er zum jüdischen Lehrerseminar in Köln und studierte später in Frankfurt und Berlin. Nachdem er in Crumstadt und Unna als Lehrer, Kantor und Prediger tätig war, übernahm er 1937 die „Ein-Klassen-Schule" der jüdischen Volksschule in Recklinghausen. Hier erlebte er auch am 9./10. November 1938 die Schrecken der Reichskristallnacht. Buchstäblich in letzter Sekunde, im September 1941, gelang ihm mit seiner Familie die Reise in die Freiheit...


Das das vielhundertseitige Manuskript in Buchform allen Nuttlarern und Interessierten zugänglich gemacht werden kann ist dem Herausgeberteam Siegfried Hohmann und Karl-Heinz Martini vom SGV Nuttlar zu verdanken, die 1993 und 1997 die beiden Heimatbücher „Nuttlar – gestern und heute, Teil I. und II." veröffentlicht haben.

In dieser Reihe erschienen die reich bebilderten Lebenserinnerungen einer jüdischen Kindheit in Nuttlar.



Aus der Rezension von Erika Richter in: Heimatpflege in Westfalen:

Lebensweise und Schicksale der deutschen Landjuden sind in den letzten Jahrzehnten erstmals intensiv erforscht worden, z.B. in den Veröffentlichungen von Monika Richarz. Ein Beispiel dafür bietet auch der von Erich Jacobs aus Nuttlar im Sauerland verfasste Lebensbericht.... Der 1906 Geborene erinnert sich mit großer Anschaulichkeit an seine glückliche Kindheit in der kinderreichen frommen jüdischen Familie in dem sauerländischen Dorf Nuttlar,
geprägt von einem unproblematischfreundschaftlichen Miteinander von Juden und Christen.

Lebendig und eindrucksvoll schildert er die Spiele in Sommer und Winter, die kindlichen Freuden und Ängste. Nach dem „Einjährigen“ in Brilon besucht er das jüdische Lehrerseminar in Köln, wo er durch zusätzliche intensive Hebräischstudien zum orthodoxen Juden wird. Sein erstes Amt als Lehrer führt ihn an das jüdische Waisenhaus in Frankfurt. Zwar macht ihm seine Aufgabe dort Freude, aber er will mehr.

Er beginnt an der Universität Frankfurt mit dem Studium von Geschichte und Germanistik. Das dortige geistige Klima ist jedoch zu Beginn der 30er Jahre schon stark vom gerade bei den Studenten verbreiteten Nationalsozialismus bestimmt. Fanatische Antisemiten hemmen seinen Kontakt zu den Kommilitonen. Das belastet den sensiblen Erich Jacobs so sehr, dass er trotz einer schon fertiggestellten Examensarbeit das Studium abbricht.

Er lernt das rituelle Schlachten, um in einer jüdischen Gemeinde Lehrer, Kantor und Schächter zu werden. In Unna findet er schließlich eine Stelle als Prediger, Lehrer und Kantor und entdeckt auch seine alte Liebe aus der Studienzeit, eine Mathematikstudentin aus Kassel, wieder.

An der festlich begangenen Hochzeit in Nuttlar beteiligen sich auch nichtjüdische Nachbarn, obwohl 1936 auch in Nuttlar durchaus schon Nazis leben. Eine Verbesserung seiner beruflichen Stellung eröffnet sich, als er Lehrer an der jüdischen Schule in Recklinghausen werden und auch die Dienstwohnung im Schulhaus beziehen kann. Seine starke pädagogische Passion zeigt sich in einem ausführlichen Kapitel über den „Ein-Klassen-Unterricht“, d.h. alle Schüler von 8-14 Jahren in einem Raum. Sein Lehrerdasein erfüllt ihn so, dass er von den schrecklichen Vorgängen der „Reichskristallnacht“ im November 1938 völlig überrascht wird. Die Schilderung seiner Erlebnisse: Verwüstung der Wohnung, Gefängnishaft, Zerstörung der jüdischen Schule hat der Sohn Jethro überarbeitet, weil er die schmerzhaften Erinnerungen des Vaters nicht öffentlich preisgeben möchte. Selbst modifiziert bleibt die Darstellung erschreckend genug. Nach diesem tiefen Schock der Vernichtung seiner beruflichen Existenz ist Jacobs, inzwischen auch Vater eines kleinen Sohns, zu der lange wegen der starken Bindung an Deutschland immer abgelehnten Auswanderung bereit. Aber die scheint beim drohenden Kriegsausbruch 1939 unmöglich, zumal jetzt die männlichen Juden alle zur Zwangsarbeit verpflichtet sind. Nur die mutige Aktivität seiner Frau Heti erreicht 1941 in Berlin die Ausreisegenehmigung.

Alle schlimmen Hindernisse, ehe das „Wunder“ eintritt, das dem Buchtitel den Namen gegeben hat, erzählt Jacobs spannend. Es war die allerletzte Chance für ihn, alle zurückbleibenden Mitglieder der Familie Jacobs wurden ermordet. Nach einem langwierigen Aufenthalt in Barcelona erhält Jacobs mit Frau und Kind die Erlaubnis zur Ausreise in die USA. Sein Sohn Jethro wandert später nach Israel in einen religiösen Kibbuz aus.

Von dort kam er nun eigens nach Bestwig, wo im Dezember 2004 die Erinnerungen seines Vaters in sorgfältiger deutscher Übersetzung vorgestellt wurden. Mit bewegten Worten dankte er für die Herausgabe des ganz ohne Hass geschriebenen Lebenszeugnisses seines Vaters in einem Deutschland, dem er in tiefer Liebe immer verbunden geblieben war.


Erika Richter in: Heimatpflege in Westfalen 21. Jg., 2/2008 ISSN 0933-6346.
Herausgeber: Westfälischer Heimatbund e.V., Kaiser-Wilhelm-Ring 3, 48145 Münster.

Es muss ein Wert angegeben werden.

Leseproben aus Erich Jacobs: „Wunder geschehen doch noch!“

Ich werde auch nie vergessen, wie es war, als einmal Schokolade im Küchenschrank lag und ich gern ein Stück davon abbekommen hätte. Papa sagte „Nein!“ und verschloss den Schrank, ließ den Schlüssel stecken. Nachdem er die Küche verlassen hatte, versuchte ich, den Schlüssel umzudrehen. Es gelang aber nicht. Was tat ich also? Ich nahm eine Schere, schob das eine Ende durch den oberen Teil des Schlüssels und versuchte so, das Schloss zu öffnen. Ich schaffte es aber nicht und verstärke den Druck. Auf einmal gab es einen Ruck, und der Schlüssel war abgebrochen. Ich ergriff die Flucht. Papa, der das Geräusch gehört hatte, kam zurück in die Küche und sah, was geschehen war. Natürlich brauchte er nicht den „Talmud“, im jüdischen Gesetzbuch, nachzuschauen, um herauszubekommen, wer dieses verursacht hatte.

  Das Unheil nahm seinen Lauf! Vater ging nach draußen und pfiff. Er hatte eine ganz spezielle Art zu pfeifen, und ich wusste, ich hatte zu kommen. Mit weichen Knien schlich ich die Treppe zu unserem Haus hinauf. Ohne ein Wort zu sagen, zog mir Papa die Hose herunter – ich trug in diesen Tagen kurze Hosen, die sich an der Rückseite öffnen ließen – und er versohlte mir dem Hintern – aber wie! Das Schlimmste war jedoch, das er es auf den Stufen vor all den anderen Kindern tat.

...

Auch ein anderes unliebsames Ereignis wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ein Bauer aus Nuttlar hatte damals einen großen Schäferhund. Der Hund war bissig und deshalb immer an gekettet. Das machte mich mutig, und ich ärgerte ihn häufig, indem ich ihn reizte. Meine Eltern hatten das zwar verboten, aber natürlich wusste ich es besser: Der Hund war ja angekettet  und  konnte mich nicht fassen. Gottes Mühlen bekanntlich  langsam, aber sicher, und so folgte die Strafe auf dem Fuß: Ich muss so sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als eines Sonntagabends während des Spiels auf der Straße unser Kindermädchen rief: „Erich, komm rein, du musst jetzt ins Bett!“ Ich entgegnete: Fang mich doch!“ Sie versuchte es auch, und ich lief auf den Bauernhof zu. Der Bauer saß gerade mit seiner Familie auf der Treppe vor seinem Haus, den Hund an der Seite – unangekettet. Der Hund sah mich ich sah den Hund. Aber er sprang mit einem Satz die Treppe hinunter, und bevor der Bauer ihn noch zurückrufen konnte, hatte er mich schon in mein Hinterteil gebissen. Meine Schreie hörte man meilenweit. Ich erinnere mich daran dass ich einen neuen Anzug trug, der nun zerrissen und voller Blut war.
Unser Kindermädchen nahm mich auf den Arm und brachte mich heim. Meine Mutter reinigte sofort die Wunde und legte mir einen Verband. Zum guten Schluss bekam ich auf die unverletzte Pobacke noch Prügel. Doch sie waren nicht das Schlimmste, auch nicht die Wunde. Außerdem hätte niemand zu dieser Zeit daran gedacht, wegen eines Hundebisses einen Arzt aufzusuchen und darüber nachzudenken, ob der Hund möglicherweise Krankheiten übertragen könnte. Die Wunde wurde ausgewaschen und verbunden, und das war`s dann. Später hatten wir unseren eigenen Hund, mit dem ich spielte. Aber nie habe ich meine Angst vor Hunden ganz verloren, seit dem mich dieser eine gebissen hatte.

...

Im Winter war es bereits um 16 Uhr dunkel, und wir mussten im Haus bleiben. Da es nur in der Küche eine Feuerstelle gab, versammelte sich dort die Familie während des ganzen Abends. Es gab kein Fernsehen oder Radio. Was sollten wir Kinder tun? - Spielen oder Lesen! Aber Bücher waren rar, deshalb wurden die spannenden Geschichten, wie „Robinson Crusoe" oder „Onkel Toms Hütte", immer wieder gelesen. Das Leben verlief in jenen Tagen viel leichter und ruhiger. ... Jeder blieb zu Hause und die Leute gingen im Winter, in der so genannten „dunklen" Jahreszeit, sehr früh zu Bett.
... Gegen Mitternacht kamen wir in Köln an, zu einer Zeit, zu der ich normalerweise zu Hause schon seit Stunden im Bett liegen musste. Welch ein riesiger Bahnhof! Und dann erst draußen diese großen Häuser! Und die beleuchteten Straßen mit Hunderten von Glühlampen! Die vielen Autos! Was war dort? Leuchtende Buchstaben, die sich an einer Hausfassade entlang bewegten! So etwas hatte ich noch niemals zuvor gesehen. Wie war es nur möglich? Und dann der Kölner Dom, über den ich so viel gehört hatte. Einfach großartig! Unbeschreiblich!
... Meine erste Stelle als Lehrer trat ich in Recklinghausen am 2. November 1937 an. ... Als ich sah, dass auf dem Schulhof eine dicke Schneeschicht lag, sagte ich zu den Kindern: „Ab nach draußen, wir machen eine Schneeballschlacht!" Schon wieder großes Erstaunen! Die Kinder wagten zunächst nicht, einen Schneeball auf ihren Lehrer zu werfen, und ich musste sie hierzu erst ermuntern. ... An diesem Tag hatten wir alle eine Menge Spaß.
... Schließlich kam der nächste Morgen und Hetti ging erwartungsvoll zum Auswanderungsbüro. Aber was war hier für ein Tumult? Hunderte von Menschen waren dort, Männer über 65 Jahre und Frauen jeden Alters. Alle waren ausreisefertig, alle weinten und schrien vor Verzweiflung. Was war geschehen? An diesem Morgen war ein weiteres Gesetz verkündet worden. Es verhinderte die Auswanderung auch der Frauen, die das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Zusätzlich waren alle bisher erteilten Genehmigungen für Männer unter 65 annulliert worden. Die Menschen wurden fast verrückt. Alle ihre Hoffnungen, ihre Anstrengungen und Kämpfe waren umsonst gewesen...

 

Buchtitel Jacobs Wunder geschehen doch noch

„Wunder geschehen doch noch!“
Geschichte und Schicksal der jüdischen Familie Jacobs
Hrsg. von Siegfried Homann, Karl-Heinz Martini, Franz-Josef Wiemer.
Aus dem englischen Originalmanuskript übersetzt von Andreas Wiemer
ISBN 3-938481-00-5
Einige Exemplare des Buches sind noch vorhanden und können
bei den Herausgebern zum Preis von € 22,00 bestellt werden.
(bei Versand: zzgl. € 2,00)

Siegfried Hohmann,  (0 29 04)  4846
Karl Heinz Martini,  (0 29 04)  42 07
Franz-Josef Wiemer, (0 29 04) 70 288
Erschienen im Verlag Josefsheim, Olsberg: 2004.
282 S. ISBN 978-3-938481-00-4.